Kapitel 4

Kapitel 4

Für den Jungen brach noch an diesem Abend eine neue Zeit an, eine gute, warme Zeit, denn er würde in ein behütetes Leben hineinwachsen. So lag er zum Beispiel Abends eingehüllt in eine weiche Decke in einem Bett in seinem angenehm temperierten Zimmer, umgeben von seinen neuen Sachen und immer ganz in der Nähe seiner liebenden Mutti und des fürsorglichen Vatis. Der Kleine war nun der Rainer. Wer er vorher war, das wusste er nicht. Genau genommen wusste er ja nicht einmal, dass es ein Vorher gab. Und daher war das – zumindest für den Augenblick – egal. Ungewöhnlich für ein Kind seines Alters war jedoch, dass er vollständig erfasste, wie gut es ihm ging, wenn er die kuschelige Decke um sich geschlungen dalag, wenn er Spielsachen und wunderbares Essen bekam, wenn er die Liebkosungen und guten Worte seiner Eltern empfing. Er schien zu wissen, dass es einem auch nicht so gut gehen konnte. Vielleicht war Rainer genau deshalb immer ein dankbares und zufriedenes Kind, was sich bezahlt machte, denn ein umgänglicher Mensch hatte es leichter im Leben, und seine Eltern liebten ihn um so mehr.

Gertrud saß da und stopfte Strümpfe. Das Leben fühlte sich warm an. Sie kümmerte sich um alles im Haus. Der Kleine, sie hatte ihn Rainer genannt, lag in seinem Bettchen nebenan und schlief friedlich. Der Name war ihr spontan eingefallen, noch als sie den Kinderwagen nach Hause schob. Kurz überlegte sie in diesem Augenblick tatsächlich, ob sie den Wagen an einem sicheren, vor dem Sturm und dem Regen geschützten Ort unterstellen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Eigentlich entschied sie ja nicht, wie sie sich später immer nachdrücklich sagte, es war vielmehr so, dass entschieden war.
Da lag der kleine Rainer also im Kinderwagen vor ihr, und der Weg führte sie nun direkt in ihre Wohnung. Das sollte so sein. Hermann war dann auch schnell mit allem einverstanden. Er wusste ja, wie gerne sie ein Kind gehabt hätte, aber es wollte einfach keines kommen. Er liebte sie, daher machte er ihr die Freude. Jetzt hatten sie ein Kind. Alles war in Ordnung, auch für ihn. Eigentlich hätte sie den Buben gerne Cary genannt, nach dem Cary Grant im Kino. Denn der hat ihr schon recht gut gefallen. So ein fesches, gescheites Mannsbild sollte der Bub auch einmal werden. Aber nennen konnte man ihn natürlich nicht so. Das ging nicht, das gehörte sich nicht. Außerdem wollten sie ja nicht auffallen. Als sie kurz nachdem der Rainer gekommen war die Nachbarin draußen trafen, hat die schon recht blöd geschaut. Doch Gertrud war vorbereitet. Sie erzählte, dass der Junge im Krankenhaus hatte bleiben müssen und erst jetzt nach Hause durfte. Nein, eine schlimme Krankheit sei es nicht gewesen, Sie hätten den Rainer halt eine gewisse Zeit beobachten müssen in der Klinik, erklärte sie erleichtert.

Und auch sonst war alles gut. Am glücklichsten war sie, wenn sie die beiden zuhause um sich hatte und sie in der behaglichen Stube umsorgen konnte. Da waren sie Vati, Mutti und Kind. Genau so hätte es immer sein sollen, und jetzt war es so. Rainer wuchs zu einem properen Kerlchen heran. Er lernte das Laufen, dann das Sprechen und bald machte er die Bekanntschaft seiner Altersgenossen aus der Nachbarschaft. Die Mutter fühlte sich zunächst etwas unsicher im Kreise der anderen Mütter draußen an der Sandgrube, doch das gab sich. Die Krankenhausgeschichte ließ viele Spielräume offen und ihre heitere Art tat ein Übriges. Allerdings gab es eine Alte im Block gegenüber, die immer seltsam den Mund verzog, wenn sie an ihr vorbeigingen. „Da lass‘ ich mir keine grauen Haare wachsen“, sagte sie zu Hermann, wenn sie ihm wieder einmal von der alten Frau aus dem Haus gegenüber erzählte. Hermann nickte dann nur nachdenklich. Für Gertrud war die Sache ganz klar. Ihr Mann hatte sich um alles gekümmert, um das Amt, um Papiere, um den ganzen Schriftkram eben. Die alte Schreckschraube sollte sie einfach in Ruhe lassen.